Gedanken zum Mainzer Rathaus

Die Moderne, der Denkmalschutz, der Künstler und die Mainzer Bürger

 

In der Debatte um das Mainzer Rathaus werden die verschiedensten Argumente verwendet, mal dafür, mal dagegen. Es lohnt, kurz inne zu halten und einige der zentralen Begriffe wie ‚Moderne’, ‚Denkmalschutz’, ‚Künstler’ und ‚Bürger’ genauer zu untersuchen.

 

1. Vom Missverständnis der Moderne

Eines der größten Projekte der Moderne war - und ist noch -, dass nicht mehr die oberen Zehntausend wie Fürsten, Kirchenherren oder Militärs, sondern der Bürger im Mittelpunkt des Interesses steht. Nicht Schlösser und Paläste, sondern Wohnungen oder Rathäuser sind die Aufgaben, denen sich moderne Architekten widmen.

Ein frühes Beispiel ist das ‚Neue Museum’ in Berlin, in dem Kunst für alle Bürger zugänglich gemacht werden sollte. Der Architekt Karl Friedrich Schinkel entwarf ein Museum, das den Residenzen des Königs ebenbürtig war.

 

Deutlicher noch als in der Verwendung herrschaftlicher Gestaltungselemente zeigt sich das neue Verständnis in einer Zeichnung. Seit Palladios vier Büchern zur Architektur waren die Entwürfe um ihrer selbst willen dargestellt, ohne Menschen. Schinkel hingegen bevölkert seinen Entwurf. Schöner als mit dem Vater, der seinem Sohn die Kunst erklärt, kann kaum veranschaulicht werden, für wen er bauen will.

Wenn die Leitschnur moderner Architektur unter dem griffigen Merksatz ‚form follows function’ zusammengefasst wird, führt das oft zu einer falschen Vorstellung.

Weder reichen ein auf rechte Winkel reduzierter Formenkanon oder der Verzicht auf Ornamente aus, um ein modernes Gebäude zu entwerfen, noch bedeutet Funktion allein das Funktionieren auf technischer Ebene.

Von beiden Verkürzungen gibt es reichlich Beispiele, und solche Gebäude haben der modernen Architektur einen Ruf eingebracht, den sie nicht verdient. Nicht die Moderne ist kalt oder rücksichtslos, sondern es gibt, wie zu allen Zeiten, eben nicht nur gute Architekten, und, nicht zu vergessen, nicht nur gute Bauherren.

Das eigentliche Projekt der Moderne bleibt aktuell!

 

2. Vom Zwiespalt des Denkmalschutzes

Angesichts der Verwüstungen, die fehlendes Verständnis an historischen Bauwerken, an Stadträumen und an Landschaften angerichtet hat, werden nur rohe Naturen bezweifeln, dass die erhaltenen Reste eine umsichtige Behandlung verdienen.

Aber: Die meisten Gebäude haben im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen erlebt, und oft macht gerade das sie besonders interessant.

Die Unterschutzstellung bedeutet einen erheblichen Eingriff in die künftige Entwicklung des Denkmals, es verliert seine Unbefangenheit. Man muss sich vor Augen halten, dass die allermeisten Gebäude nie das hätten werden dürfen, was sie heute sind, wenn sie von Anfang an unter Denkmalschutz gestanden hätten. Kein Dom, kein Mittelrheintal, kein Venedig.

Sie alle sind das Ergebnis einer Entwicklung, in der jede Zeit das Ihre hinzugefügt hat, mal mit mehr, mal mit weniger Rücksicht - auch das zeittypische Eigenheiten.

Moderner Denkmalschutz weiß um diesen Zwiespalt und wird das Potential zur Weiterentwicklung nicht verstellen.

 

3. Von der Autonomie des Künstlers

Dass man für ein Gebäude den Architekten kennt, ist, in der Gesamtheit betrachtet, die Ausnahme. Für den Dom, das Pantheon oder die Häuser am Kirschgarten sind eher die Auftraggeber als die Entwerfenden bekannt.

Es ist kein Zufall, dass sich die identitätsstiftende Wirkung eines benennbaren Entwerfers zeitgleich mit der Zunahme an Möglichkeiten entwickelte. Mittelalterliche Städte wie Lübeck oder Siena mit ihrer ausgewogenen und jeweils charakteristischen Homogenität sind in einer Zeit, in der Baumaterialien, Techniken und Ideen weiträumig zirkulieren können, nicht mehr denkbar. Michelangelo, Schinkel oder Jacobsen geben mit ihrem Namen ein Zubrot zu den gelieferten Produkten, seien es Gemälde, Bilder oder Bestecke. Der Künstler im Architekten ‚veredelt’ das Produkt.

Dennoch gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Kunst und Architektur. Wer die Kunst nicht mag, kann sie umgehen. Selbst bekannte moderne Künstler wie James Joyce, Anselm Kiefer oder Arvo Pärt haben ein kleines Publikum im Vergleich zu modernen Architekten, deren Werke täglich genutzt werden.

Daraus erwächst eine Verpflichtung, um Akzeptanz zu werben, die jeder Künstler zu Recht von sich wiese, der sich ein Architekt aber nicht verschließen darf. Und deshalb ist die Idee, ein Gebäude unter Urheberrecht zu stellen, absurd. Man stelle sich vor, Porsche oder Giugiaro verböten, dass an den von Ihnen entworfenen Autos Änderungen vorgenommen werden.

Veränderungen, selbst wenn sie der Wankelmütigkeit des Kunden entspringen, müssen möglich sein; dabei schadet es nicht, den Ausgangsgedanken im Auge zu behalten.

4. Vom Selbstbewusstsein der Mainzer Bürger

In Mainz gibt es, neben anderen, vier große Bauwerke, die auf sinnfällige Weise die wichtigen Einflüsse auf das heutige Stadtbild repräsentieren.

Der Dom dokumentiert den langen und starken kirchlichen Einfluss.

Von großen Anlässen wie Ostern und Weihnachten abgesehen ist er für moderne Gottesdienste ziemlich ungeeignet; zu groß, zu dunkel, vom ungünstigen Verhältnis Volumen zu Nutzfläche ganz zu schweigen. Kein Mensch käme auf den Gedanken, wegen dieser Probleme den Dom auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.

Das Schloss steht für den Repräsentationsanspruch der Kurfürsten.

Die Fassade ist eine nicht enden wollende Baustelle, die städtebauliche Situation rund um das Gebäude, freundlich gesagt, unbefriedigend. Das ist jedoch für niemanden Anlass, über Abriss oder Verlegung nachzudenken.

Die Zitadelle erinnert an die einstige militärische Bedeutung der Stadt.

Sie mag als Symbol eines Militärregimes gelten, das die Stadt in ihrer Entwicklung stark eingeschränkt und die Bürger unterjocht hat. Dennoch ist diese belastete Historie zu Recht nicht das einzig relevante Beurteilungskriterium.

Das Rathaus verkörpert den – späten – Übergang zu einer modern verfassten Gemeinde.

Angesichts der Mainzer Geschichte ist es kein Zufall, dass mit dem Rathaus das Symbol für die Bürger als letztes dazu kam. Es hat einige sehr gewichtige Qualitäten, und zwar unabhängig davon, ob es von Jacobsen gebaut wurde, denkmalgeschützt ist oder eines der wenigen wichtigen Gebäude der Moderne ist.

Es liegt am richtigen Ort.

Der Eisenturm erinnert daran, dass das Rheinufer Jahrhunderte lang nicht zur Stadt gehörte. Das Rathaus hat den Sprung über die Rheinstraße gewagt. Es mag eine Treppe fehlen, es mag der Platz nicht gefallen, aber die grundsätzliche Entscheidung für den Ort ist richtig.

Wer wollte ernsthaft ein Rathaus auf der grünen Wiese?

Es ist von hoher Symbolkraft. Nicht umsonst ist die Rheinansicht das Symbol der Mainzkolumne dieser Zeitung.; der Eingang mag zu klein sein, die Verkleidung marode, der Wiedererkennungswert ist unbestreitbar und gelungen.

Wer wollte ernsthaft diese am schwierigsten zu erreichende Eigenschaft aufgeben?

Es wurde es im besten Sinne der Moderne entwickelt.

Trotz funktionaler Mängel, und obwohl die Umsetzung des einen oder anderen Gedankens nicht so gelungen ist, wie das erhofft war, ist es eben kein seelenloser Kasten, wie ihn viele andere Städte haben.

Dies alles gilt es zu würdigen, und dabei verdient das Rathaus ähnliche Gelassenheit wie die anderen, älteren Bauwerke. Warum sollte beim Bürgersymbol auf einen Streich gelingen, wofür die anderen wichtigen Bauwerke Jahrhunderte brauchten? Sie, die Bürger, sind immer noch an der Macht, und sie sollten selbstbewusst daran gehen, ihr Rathaus weiter zu entwickeln.

Wir Mainzer sind stolz auf eine über 2000-jährige Geschichte. Geben wir uns und dem Rathaus die Zeit, die es braucht, um Teil dieser Geschichte zu werden. Die hat auch das eingangs erwähnte Neue Museum bekommen, und das nicht zum Schaden Berlins. Es heißt inzwischen ‚Altes Museum’.